Tinderbox das Album von Siouxsie and the Banshees ist ein beeindruckendes Werk, das am 21. April 1986 unter der Produktion von Chris Kimsey veröffentlicht wurde und Platz 13 der UK Albumcharts erreichte. Es markierte eine wichtige Phase in der Entwicklung der Band, die sich künstlerisch und personell neu gefunden hatte. Nach dem Weggang von Gitarrist Robert Smith, der zuvor in Personalunion bei The Cure und Siouxsie and the Banshees spielte, brachte die Verpflichtung des neuen Gitarristen John Valentine Carruthers frischen Wind in die Gruppe. Carruthers‘ Spiel fügte sich organisch in die bestehende Dynamik ein und trug dazu bei, die Soundästhetik des Albums neu auszurichten.
Das Album wurde während einer intensiven kreativen Phase in den legendären Hansa Studios in Berlin aufgenommen. Dieses Studio, berühmt für seine Verbindung zu musikalischen Größen wie David Bowie, Iggy Pop und Depeche Mode, bot eine besondere Atmosphäre, die die Band inspirierte. Der industrielle Charme Berlins in den 1980er Jahren, geprägt von geteilten Realitäten und künstlerischer Rebellion, spiegelt sich in der Musik von Tinderbox wider. Die Umgebung und das Studio selbst trugen maßgeblich zur fast greifbaren, dichten Klangwelt des Albums bei, die düster, mystisch und dennoch lebendig wirkt. Die Band schöpfte aus dieser Energie und lieferte ein kohärentes, klanglich ausgewogenes Werk ab, das sowohl Innovation als auch Vertrautheit vermittelte.
Die Besetzung, bestehend aus der charismatischen Siouxsie Sioux, deren unverwechselbare Stimme in ihrer Ausdrucksstärke und Vielfalt auf dem Album neue Höhen erreicht, Steven Severin, dessen hypnotische Basslinien die Songs erden und eine dunkle, pulsierende Grundlage bieten, und Budgie, einem Meister des Schlagzeugs, der mit rhythmischer Präzision und experimentellem Flair überzeugt, zeigte sich auf Tinderbox in Bestform. Budgies dynamisches Spiel, das mal treibend, mal subtil ist, verleiht den Stücken eine Tiefe, die sie organisch wachsen lässt.
Der Neuzugang John Valentine Carruthers fügte eine neue Dimension hinzu: Seine Gitarrenarbeit auf Tinderbox oszilliert zwischen schwebenden, hallenden Effekten und scharfkantigen, rhythmischen Akzenten. Carruthers‘ Spiel verleiht den Stücken ein ätherisches, fast psychedelisches Element, das perfekt zur post-punkigen Grundstimmung passt. Er trägt entscheidend dazu bei, dass das Album eine perfekte Balance zwischen Melancholie, Energie und musikalischer Komplexität findet.
Unter der Leitung von Produzent Chris Kimsey, der bereits durch seine Zusammenarbeit mit den Rolling Stones internationale Anerkennung gefunden hatte, erreichte die Band ein neues Level an klanglicher Finesse. Kimsey verstand es, die Stärken jedes Bandmitglieds hervorzuheben, während er die Gesamtatmosphäre des Albums intensivierte. Sein Fokus auf detailreiche Produktion und klangliche Tiefe führte dazu, dass jeder Song auf Tinderbox wie ein eigenständiges Kunstwerk wirkt, das gleichzeitig in das große Ganze eingebettet ist.
Tinderbox steht exemplarisch für die Fähigkeit von Siouxsie and the Banshees, das Drama und die Dunkelheit des Gothic Rock mit den treibenden Rhythmen des Post-Punk zu vereinen. Der Sound des Albums ist geprägt von schwerelosen, luftigen Gitarrenpassagen, pulsierenden Basslinien und Siouxsies eindringlicher Stimme, die sowohl verletzlich als auch unerschütterlich klingt. Die Texte des Albums bewegen sich zwischen persönlicher Reflexion, gesellschaftlicher Kritik und atmosphärischen Bildern, die dem Hörer Raum zur Interpretation lassen.
Candyman öffnet das Album mit einem energiegeladenen und fesselnden Sound. Die Gitarrenarbeit von Carruthers ist kantig und treibend, während Budgie mit einem schnellen, druckvollen Schlagzeugspiel das Fundament liefert. Siouxsie Sioux‘ eindringlicher Gesang thematisiert in poetischer Form das Thema Kindesmissbrauch, ein mutiges und zugleich beklemmendes Sujet. Zeilen wie „Oh, you can't hear me, can't hear me“ spiegeln die emotionale Hilflosigkeit wider, während der Song gleichzeitig vor Wut und Dringlichkeit strotzt.
Der zweite Track, The Sweetest Chill, wirkt wie eine plötzliche Ruhepause nach dem stürmischen Auftakt. Sanfte, hallende Gitarrenklänge und fließende Basslinien erschaffen eine verträumte, fast schwebende Atmosphäre. Der Text ist von Melancholie durchzogen, ein gefühlsmäßiges Porträt von Sehnsucht und Verlust. Siouxsies Gesang ist hier besonders ausdrucksstark, fein und melodisch, was dem Song eine bittersüße Note verleiht.
Mit This Unrest steigert sich die Dichte und Schwere des Albums. Der Song entfaltet sich wie ein sich aufbauender Sturm, getragen von unheilvollen Gitarren, verzerrten Basslinien und eindringlicher Percussion. Siouxsies Stimme schwankt zwischen Klage und Anklage, wobei der Text über aufgestaute Frustrationen und innere Zerrissenheit reflektiert. Ein Höhepunkt des Liedes ist der atmosphärische Mittelteil, in dem die Musik zu brodeln scheint, bevor sie sich schließlich in einem kraftvollen Finale entlädt.
Cities in Dust ist der wohl bekannteste Song auf Tinderbox und zugleich einer der eindrucksvollsten Tracks in der gesamten Diskografie der Band. Musikalisch ist der Song tanzbar, mit einem treibenden Rhythmus und schneidenden Synthesizer-Einsätzen, während der Text den Untergang der Stadt Pompeji beschreibt. Zeilen wie „Hot and burning in the dust“ vermitteln eindrücklich die Apokalypse, die durch das Ausbrechen des Vesuvs ausgelöst wurde. Die Kombination aus lyrischer Dramatik und mitreißender Musik macht Cities in Dust zu einem unvergesslichen Erlebnis.
Cannons folgt als eher introspektiver, langsamer Track, der mit hallenden Gitarren und trägem Rhythmus eine unheimliche, psychedelische Stimmung erzeugt. Hier tritt besonders das Zusammenspiel zwischen Steven Severins Basslinien und Budgies subtiler Schlagzeugarbeit hervor. Die Stimmung wirkt fast traumartig, während der Text Bilder von Krieg und drohender Zerstörung heraufbeschwört. Siouxsie Sioux singt hier mit einer Mischung aus sanfter Resignation und klarer Bestimmtheit.

Tinderbox
Listen ON:
Party's Fall hebt sich durch seine experimentelle Struktur hervor. Die Gitarren flirren, die Rhythmik ist komplex und unvorhersehbar. Der Song entfaltet sich langsam und wirkt wie ein musikalisches Labyrinth, durch das Siouxsies Stimme mit wechselndem Ausdruck navigiert. Der Text ist vieldeutig, spricht jedoch von einem Ende, vielleicht einer Beziehung oder einer Lebensphase, und den Konsequenzen, die daraus entstehen.
Ein weiteres Highlight des Albums ist 92°, ein Song, der das Gefühl unerträglicher Hitze und nahender Gefahr einfängt. Budgies Percussion dominiert hier und vermittelt ein Gefühl von Rastlosigkeit, während Carruthers‘ Gitarre wie flimmernde Hitzewellen erscheint. Der Text verweist auf das Konzept des „92°“, die Temperatur, bei der die Dinge zu kochen beginnen – ein passendes Bild für die steigende Spannung und das Gefühl des Unausweichlichen.
Das Album schließt mit Lands End, einem majestätischen Finale, das wie eine musikalische Landschaft erscheint. Die schwebenden, breiten Gitarrenlinien und der melancholische Gesang von Siouxsie Sioux lassen Bilder von endlosen Horizonten und einer Reise ins Ungewisse entstehen. Der Song entfaltet sich langsam und endet mit einer Kombination aus Erhabenheit und finaler Ruhe, die das Album auf eindrucksvolle Weise abrundet.
Das Cover von Tinderbox, gestaltet von Nigel Grierson, ist ein visuelles Meisterwerk, das die dramatische Essenz des Albums einfängt. Das Motiv zeigt ein verlassenes, windgepeitschtes Haus, das inmitten eines tobenden Sturms zu stehen scheint. Der Himmel darüber ist von tiefen, bedrohlichen Wolken bedeckt, die eine unheilvolle Atmosphäre erzeugen. Die Farbpalette, überwiegend in gedeckten Tönen gehalten, betont die emotionale Intensität des Bildes. Dieses Cover verkörpert nicht nur das Chaos und die düstere Schönheit, die sich durch die Musik ziehen, sondern schafft auch eine tiefere Verbindung zwischen der visuellen Kunst und den lyrischen Themen des Albums. Es vermittelt ein Gefühl von Isolation und Widerstandsfähigkeit, während es gleichzeitig die epische und melancholische Stimmung von Tinderbox verstärkt. Es ist nicht einfach nur ein Cover, sondern eine Erweiterung der Musik, die die Hörer direkt in die Welt von Siouxsie and the Banshees eintauchen lässt. Die Wahl dieses ikonischen Bildes unterstreicht die Fähigkeit der Band, mehrere künstlerische Disziplinen in einem kohärenten Werk zu vereinen.
Fazit: Mit Tinderbox liefern Siouxsie and the Banshees ein Werk ab, das sowohl musikalisch als auch thematisch zu ihren stärksten Veröffentlichungen zählt. Es kombiniert rohe emotionale Kraft mit atmosphärischer Raffinesse und zeigt die Band auf dem Höhepunkt ihrer Kreativität. Die dichten Klanglandschaften, Siouxsie Sioux‘ charismatischer Gesang und die meisterhafte Instrumentierung durch Severin, Budgie und Carruthers machen das Album zu einem beeindruckenden Hörerlebnis. Jeder Track steht für sich, fügt sich aber dennoch nahtlos in das Gesamtbild ein, das von Dramatik, Dunkelheit und subtiler Schönheit geprägt ist.
Tinderbox ist nicht nur ein Meilenstein im Post-Punk-Genre, sondern auch ein zeitloses Album, das seine Wirkung bis heute nicht verloren hat. Es bleibt ein Muss für Fans der Band und für alle, die die Schnittstelle zwischen Gothic Rock, New Wave und tiefgründiger, emotionaler Musik erleben möchten.


